Manfred Gütschow im Gespräch mit Anna Hellmich

Erinnerung an Fischlands große Zeit

Begegnung mit Manfred Gütschow in Wustrow

Hinweis: Dieser Artikel enthält in erster Linie Informationen, die das im Buch Gesagte ergänzen oder vertiefen.

„Sie sind der erste Mensch, der die Dinge beim Namen nennt!“ So lautete eine spontane Reaktion auf die von Manfred Gütschow verfasste Chronik „Erinnerung an Fischlands große Zeit“.

Manfred Gütschow (94) füllt mit seinem im Mai diesen Jahres erschienenen Buch eine Lücke der Geschichtsschreibung für seine Heimat: das Leben in Wustrow (Fischland) zwischen 1926 und 1946.

Am Sonntag, 18. September 2022 habe ich ihn in seinem Sommer-Domizil in Wustrow besucht.

Auf die Frage hin, warum er das Buch verfasst habe, zeigt Manfred Gütschow mir ein Exemplar von „Das Land Swante Wustrow oder das Fischland“ von C.J.F. Peters, einem seiner Vorfahren.

„Swante Wustrow“ ist ein wendischer Name und bedeutet „Heilige Insel“. Das größte Heiligtum der Wenden befand sich einst auf dem heutigen Kirchberg in Wustrow, auf dem nun die 1873 eingeweihte Backsteinkirche steht.

Das Werk von C.J.F. Peters reicht nur bis 1926, während die spätere Heimatkunde im Fischland das dunkle Kapitel von NS-Zeit und II. Weltkrieg ausklammert. Gerade diese Zeit ist für Manfred Gütschow wichtig. Es waren prägende Jahre für seine Kindheit und auch für Wustrow.

Erstens ist da der Übergang von der Segelschifffahrt zur Dampfschifffahrt, der sich bereits in der Zeit ab Ende 1880 abzuzeichnen begann.

Foto von einem Aquarell des Dampfers Harz auf einer holzgetäfelten Wand

Die „Harz“, die auf diesem Aquarell von 1909 zu sehen ist, hat ihren Namen von einem Partengeber* aus Quedlinburg. Ihr Kapitän war Richard Brüdigam, der Großvater mütterlicherseits von Manfred Gütschow. Das Bild hängt bei Manfred Gütschow in der Wohnstube.

Zweitens stellen die Jahre 1926-1946 eine Phase der Transformation dar, an deren Ende aus dem Heimatort der Kapitäne und Seefahrer ein Anlaufpunkt für den Tourismus geworden war. Früher gab es weit über hundert Kapitäne im Ort. Heute sind es sechsundzwanzig, die meisten davon Rentner.

Drittens nennt Manfred Gütschow in seinem Buch Namen und Fakten, die sonst leicht der Vergessenheit anheimfallen könnten, wie zum Beispiel die Geschichte von Dora Menzler, geboren am 19.10.1874 in Jever. Auch einige seiner Gedichte im Fischländer Plattdeutsch findet man dort.

Mehr über Dora Menzler: https://de.wikipedia.org/wiki/Dora_Menzler

Dora Menzler hat trotz ihrer jüdischen Wurzeln die NS-Zeit überlebt, ohne Deportation. Und zwar vor auch deshalb, weil die Wustrower Frauen ihre Gymnastikabende am Donnerstag liebten. Ihre Hauptwohnung hatte sie in Dresden, doch verbrachte sie den Sommer in Wustrow. Als Anhängerin der FKK-Bewegung gab sie Kurse in ihrem Garten, verborgen hinter zwei Meter hohen Wänden aus Schilf. Auch hatte sie eine Sandburg in Richtung Dierhagen. In den Bäumen pflegten häufig Schüler der Seefahrtschulen zu sitzen, um das Ganze zu beobachten.

Für Dora Menzler war Wustrow ihre menschliche Heimat. Im Alter saß sie häufig am Fenster ihres Hauses und winkte den Vorbeigehenden zu. Sie ist am 10.09.1951 in Wustrow verstorben.

Seit 1933 erschienen in Wustrow – so wie in anderen Ostseebädern auch – Hinweisschilder mit der Aufschrift: „Juden unerwünscht“.

Die Leiterin der jüdischen Schule in Wustrow, eine Madame Roche aus Frankreich, wurde 1934 erschossen in ihrem Garten aufgefunden. Zu einer ordnungsgemäßen polizeilichen Untersuchung kam es nicht, obwohl der Verdacht auf Mord bestand. Die jüdische Schule, ein Erholungs- und Lernort für Kinder aus Berlin, wurde von den Nazis geschlossen und das Gebäude beschlagnahmt.

In Wustrow selbst gab es keine jüdische Gemeinde, jedoch zum Beispiel in Ribnitz. Von dort sind Menschen deportiert worden. Weiteres Infos: http://www.juden-in-mecklenburg.de/Orte/Ribnitz_Damgarten

Der Greifswalder Schauspieler Kurt Brüssow kam Anfang 1945 mit einer Flüchtlingsgruppe aus Pommern nach Wustrow. Mehr zu seinem Leben unter https://www.stolpersteine-homosexuelle.de/kurt-bruessow

Brüssow war unter Auflagen aus dem KZ entlassen worden und engagierte sich gemeinsam mit anderen im Ort für eine friedliche Übergabe zu Kriegsende.

In Wustrow gab es eine NSDAP-Ortsgruppe. Moderate Kräfte im Ort sorgten dafür, dass der zur Willkür neigende Bürgermeister Reinholz durch den Kriegsinvaliden Wieck ersetzt wurde, der dieses Amt schon zuvor innegehabt hatte. Beides waren NS-Leute.

Der Widerstand, der sich in Wustrow formierte, basierte vor allem auf der Ablehnung der NS-Ideologie und NS-Feiertage, weniger auf konkreten Planungen. Es gab zwei Gruppen, die sich ab 1943 regelmäßig trafen: Zum einen die Kapitäne, die sich ohnehin regelmäßig in der Börse am Hafen begegneten, bzw. reihum in den Kapitänshäusern; zum anderen die Kapitänsfrauen, vor allem Witwen, die zum Grogabend in das Elternhaus von Manfred Gütschow kamen.

Zu Kriegsende wurde vom Kirchturm aus beobachtet, dass eine Militäreinheit mit einer großen Pferdeherde auf der mehrere Quadratkilometer großen Weide südwestlich des Ortes Posten bezogen hatte. Die Information kam durch, dass die Stadt Ribnitz schon an das russische Militär übergeben worden war. Kurt Brüssow und der Kapitän Friedrich Joerk sowie der Dolmetscher Trifan Klemenoff wurden nun Teil des Wustrower Übergabekomitees, das eine friedliche Begegnung mit den anrückenden Kosaken ermöglichte.

Ein unrühmliches Kapitel der Nachkriegszeit war die gegenseitige Denunziation. Ein flüchtiger Nationalsozialist ließ zum Beispiel in seinem Haus eine Liste mit Namen liegen, in der weitere Personen aus dem Ort als Nationalsozialisten benannt wurden, darunter minderjährige Wehrwölfe und ein Kapitän Westphal, der infolge seiner Verhaftung auf dem Transport nach Dreieichen in Neubrandenburg verstarb. Niemand weiß, ob sein Name zu Recht oder zu Unrecht auf die Liste kam, und was den Verfasser der Liste motiviert hat.

Manfred Gütschow selbst hat bis zu seinem 18. Lebensjahr in Ostseebad Wustrow, Strandstraße 38, jetzt Nr.11, gelebt. Für ihn war eine Kapitänskarriere vorgesehen, doch musste er aufgrund von Sippenhaft eine andere Laufbahn wählen.

Sein Vater Fritz Gütschow, ein bekannter Dampfschifffahrtskapitän, hat nach dem Krieg in Flensburg und Hamburg mit seinem Tankschiff gelegen und fuhr unter anderem Anfang der 50er Jahre die World Tolerance. Als Ritterkreuzträger wagte er sich nicht nach Wustrow, denn er hatte Angst vor den Sowjets. Er war für die Versorgung des Panzer-Brückenkopfes in Libau (Lettland) verantwortlich, und hatte noch 1945 auf der Rückfahrt mit seinem Tanker Hunderte von Flüchtlingen transportiert. Dafür wurde ihm noch im Februar 1954 das Ritterkreuz verliehen.

Else Gütschow, die Mutter von Manfred Gütschow, ist jahrelang nach Antwerpen gefahren, zum tiefsten Hafen Europas, um dort ihren Mann zu treffen. Denn nur dort konnte er mit seinen großen Pötten anlegen.

Manfred Gütschow hat nach verschiedenen Tätigkeiten seine Bestimmung gefunden: Seit 1974 war er mit großer Begeisterung und Sachkunde erfolgreich in Jena als Leiter der Stadtplanung tätig. Noch im Ruhestand hat er seine Fähigkeiten im Auftrag des deutschen Senior-Expertenservice weltweit eingesetzt.

Manfred Gütschow

*Die so genannte Partenreederei, eine Praxis innerhalb der Kapitänclans, führte dazu, dass das durch die Schifffahrt erwirtschaftete Geld in Form von Anteilen an neuen Schiffen in den Clan zurück floss. „Geld muss bei Geld bleiben“, lautete das Motto. Wenn ein Schiff neu erworben werden sollte, ging der junge Kapitän innerhalb seines Clans von Tür zu Tür und bat um Geld. Wenn das Geld der Kapitäne nicht ausreichte, fuhr er auf die Güter im Binnenland. Die Rittergutsbesitzer profitierten dadurch von der Schifffahrt, dass ihre Produkte auf den Schiffen transportiert wurden, und hatten somit ein Interesse daran, die Kapitäne zu unterstützen. Einmal im Jahr versammelten sich die Partengeber, wurden über die Jahresergebnisse informiert und bekamen ihre Anteile am Gewinn ausgezahlt. Weiteres dazu: Gerhard Ringeling, Fischländer Volk, ISBN 978-3-938510-57-5

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