Rezension zu „Gemeinschaft der Ungewählten“ von Sabine Hark
Sabine Hark, Soziolog_in und Professor_in für Gender Studies, ist mit ihrem Essay „Gemeinschaft der Ungewählten“ ein großer Wurf gelungen. Die Anregung für mich, darüber zu schreiben, kam durch einen Vortrag von Sabine Hark, den ich am 7. Juli 2022 im Wegemuseum Wusterhausen gehört habe.
Dass es möglich sein soll, das Ruder herumzureißen, erstarrte Strukturen und Sichtweisen zu öffnen und lebensfreundlich zu gestalten – ehrlich gesagt, das glauben heute die wenigsten, oder?
Zu Beginn zitiert Sabine Hark mehrere Autor_innen, unter anderem Judith Butler, die schreibt:
Assoziation ist kein Luxus, sondern gehört zu den ureigensten Bedingungen und Vorrechten der Freiheit.
Kurz gesagt: Als soziale Wesen sind wir auf andere angewiesen und bezogen. Allein und isoliert können wir nicht in Würde und Freiheit leben. Weil aber die „Subalternen“ (Begriff von Gayatri Spivak), diejenigen, die an der Schattenseite der Privilegierten ihr Dasein fristen, nicht gesehen und nicht aufgenommen werden, ist es so, als wären sie nicht da.
Sabine Hark nennt viele Beispiele, unter anderem zieht sie eine Parallele zwischen den boat people Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, für die Michel Foucault 1981 ein Plädoyer hielt, und den Menschen, die heute an den europäischen Grenzen ertrinken oder in Dauer-Lagern ihr Leben verbringen.
„Gekommen, um zu bleiben“ – Schreckgespenst derjenigen, die meinen, ein Volk müsse unter sich bleiben. Hark arbeitet heraus, wie gewaltförmige Diskurse diejenigen mit-formen, die ihnen ausgesetzt sind. Ganz praktisch dadurch, dass sie ausgeschlossen werden und sterben. Darüber hinaus generieren solche Diskurse eine allgemeine „Zertrennung“ (Begriff von Salmen Gradowski), ein Verhindern von Beziehung und gegenseitiger Unterstützung.
Gradowski bezieht die Figur der Zertrennung auf sein persönliches Erleben der Shoah. Sie lässt sich leicht übertragen auf das Auslöschen von Bezogensein in den unterschiedlichsten Kontexten von Herrschaft (dominance). Verwandt ist sie mit der Vernichtung ganzer Gemeinschaften durch Kolonisation.
Die „Gemeinschaft der Ungewählten“ ist bei Sabine Hark keine reale Vereinigung und kein Revolutions-Ziel. Wobei mir ihre Aussage sehr gefällt, dass eine Klärung notwendig sei, „was unter Revolution verstanden wird.“ Anstatt „Sturm auf die Bastille“ könnte eine Revolution „die zweifelsohne mühsamere, weniger glamouröse Arbeit der Erfindung neuer, egalitärer, für einander sorgender gesellschaftlicher Beziehungsweisen sein“. Wahre Worte. Sofort nachvollziehbar, wenn wir zum Beispiel auf die Pflege schauen, die unter hoch problematischen Bedingungen stattfindet.
„Ungewählt“, so Sabine Hark, sind wir alle. Es sei das einzige Merkmal, das alles Leben auf der Erde verbindet. „Gemeinschaft“ ist – bei aller Ambivalenz, die in diesem Begriff enthalten ist – das einzige Wort, das präzise erfasst, was wünschenswert wäre: dass jedes Leben auf der Erde als eine „Angelegenheit der Sorge“ Geltung hat.
Sorge, als eine Haltung der Zugewandtheit, „zärtliche Bürgerlichkeit“ (Begriff von Olga Tokarczuk) im Gegensatz zu einer „rohen Bürgerlichkeit“ (als Verweigerung von Solidarität), ermöglicht erst echte Demokratie. Alles andere ist Selbstbetrug.
Vielen Dank für diesen präzisen und sehr lesbaren Beitrag zu der Frage, wie heute Demokratie zwischen Differenz und Zugehörigkeit gelebt werden kann!